„Ich möchte zur Erinnerungskultur beitragen“
06 Nov 2023, Posted by Pressemeldungen inRHEINISCHE POST, Interview Matthias Kuchta
06.11.2023, Foto: Kuchta
Langenfeld Mit dem Puppentheaterstück „Helgas Reise nach Riga“ will der Langenfelder Puppenspieler Matthias an die Gräueltaten der Nationalsozialisten erinnern.
Von Viola Gräfenstein In der Pogromnacht am 9. November 1938 brannten deutschlandweit die Synagogen. Auch die Langenfelder Synagoge stand in Flammen. Mit dem Erzählspiel „Helgas Reise nach Riga“ möchte der Puppenspieler Matthias Kuchta zur Erinnerungskultur an die NS-Zeit beitragen. Die Veranstaltung wird vom Verein Kulturgut Langenfeld im Rahmen der Antisemitismuswochen organisiert.
Herr Kuchta, was erzählen Sie in Ihrem Stück „Helgas Reise nach Riga“?
KUCHTA Ich erzähle von dem kurzen Leben der Helga Meyer, die am 9. August 1931 in Langenfeld geboren und mit 13 Jahren in das Konzentrationslager Stutthof bei Danzig gebracht wurde. Was mit ihr passierte, ist unklar. Helga gilt als verschollen.
Ihr Erzählstück beruht auf Fakten. Zugleich spielen Sie fiktive Szenen aus dieser Zeit einer jüdischen Familie im nationalsozialistischen Langenfeld nach. Was wollen Sie damit bewirken?
KUCHTA Ich möchte nicht nur zeigen, wie sich der Alltag einer jüdischen Familie in Deutschland durch die zahlreichen Verordnungen, die es für Jüdinnen und Juden gab, veränderte, sondern auch, wie das perfide Gedankengut des Nationalsozialismus immer stärker das Denken und Handeln der deutschen Gesellschaft beeinflusste. Die Familie Meyer aus Langenfeld ist nur ein Beispiel für die vielen anderen jüdischen Familien in Deutschland.
Am 9. November 1938 riefen die Nationalsozialisten dazu auf, Synagogen und Geschäfte zu zerstören. Auch in Langenfeld brannte die Synagoge. Wie ging die Bevölkerung damit um?
KUCHTA Der Rauch nach dem Brand, die zerschlagenen Fenster der Synagoge auf der Hauptstraße 7, die damals „Adolf-Hitler-Straße“ hieß, sowie die zerstörten Geschäfte mussten überall sichtbar gewesen sein. Am nächsten Tag wurde jedenfalls Karneval gefeiert. „Jubeln im Dörp. Die Lachmuskeln wurden aufs Äußerte strapaziert“. So stand es in der Lokalzeitung. Ich weiß nicht, was die Menschen über diese Nacht dachten.
Für die Familie von Helga Meyer war diese Nacht noch einmal ein Wendepunkt. Inwiefern?
KUCHTA Am 9. November 1938 wurde auch das Textilwarengeschäft des Vaters zerstört. Ab 1938 durfte Helga nicht mehr in Langenfeld zur Schule gehen. 1941 mussten alle in Langenfeld verbliebenen Juden im Judenhaus auf der Ganspohler Straße 13 wohnen. Im Dezember 1941 wurde die Familie Meyer zunächst in das Ghetto Riga deportiert, dort kam der Vater, Bernhard Meyer, um. Mutter Emmy und Tochter Helga wurden am 9. August 1944 in das Konzentrationslager Stutthof bei Danzig gebracht, in dem die Mutter starb. Über Helgas Tod gibt es keinen Eintrag in der Häftlingsregistratur des KZ.
Wie sind Sie auf Helga Meyers Geschichte gestoßen?
KUCHTA Ich bin über ihren goldenen Stein im Pflaster vor der Stadtbibliothek gestolpert. Es hat mich sehr bewegt, als ich las, dass sie an ihrem Geburtsdatum mit 13 Jahren in ein Konzentrationslager deportiert wurde. Ich wollte mehr über das Schicksal dieses Kindes wissen. Die Arbeiten des Langenfelder Historikers Günter Schmitz haben mir, genau wie die Mitarbeiter des Stadtarchivs, bei der Recherche sehr geholfen.
Warum haben Sie dafür die Form des Puppenspiels gewählt?
KUCHTA Ich habe Geschichte studiert und merkte während meines Studiums, dass das Puppenspiel meine Ausdrucksform war. Deshalb studierte ich Puppentheater am Institut für Puppenspiel in Bochum. Mit dem Spiel mit Papierfiguren aus echten Zeitungen der Jahre 1934 bis 1936 möchte ich insbesondere jüngere Generationen erreichen. Das Stück verurteilt Antisemitismus, Fremdenhass und Wegschauen, aber ich erhebe keinen pädagogischen Zeigefinger, sondern will berühren, zum Nachdenken und Diskutieren anregen, eben zum Nicht-Abwenden.
Die Erinnerungskultur an die Gräueltaten der NS-Zeit ist Ihnen sehr wichtig. Wie kommt das?
KUCHTA Meine Eltern befürworteten den Nationalsozialismus. Mein Vater war Lehrer in Schleswig-Holstein. Meine Eltern haben mit uns Kindern nie über diese Zeit gesprochen. Jede Nachfrage führte zu unerklärlichen Wutanfällen. Ich wollte das Schweigen brechen und mit meinem Stück an Helga erinnern, ihr ihre Würde, ihrem Leben eine Wichtigkeit und Anerkennung wiedergeben.
Sie haben als junger Mann während ihres Zivildienstes in der Gedenkstätte und Museum des Konzentrationslager Auschwitz gearbeitet. Wie kam es dazu?
KUCHTA Ich habe im Rahmen meines Zivildienstes mehrere Monate in der Pflege der Gedenkstätte Auschwitz mitgearbeitet und westdeutsche Jugendbesuchergruppen betreut. Außerdem habe ich Kontakte zu polnischen und jüdischen Gesprächspartnern hergestellt. Es war schwer und ich war sehr schockiert. Viele Mitarbeiter vor Ort waren ehemalige Häftlinge, die dort wohnten und mich sehr liebevoll und tolerant unterstützt haben.
Wie konnten ehemalige Häftlinge in Auschwitz wohnen?
KUCHTA Es gab beispielsweise den Kunstmaler Jerzej Brandhuber, der von 1940 bis 1945 in Auschwitz inhaftiert war. Er überlebte, weil er Porträts und Hirsche in der Landschaft für die SS malte. Er zeichnete auch Szenen aus dem KZ. Er sagt, er habe es nur aushalten können, indem er dort aktiv lebte, um das Grauen zu verarbeiten.
Derzeit gibt es weltweit und auch in Deutschland aufgrund des Nahostkonflikts wieder antisemitische Vorfälle gegen Juden. Was sollte die Gesellschaft tun?
KUCHTA Es gibt eine Gemengelage, bei der viel in einen Topf geworfen wird. Wir müssen die jüdischen Menschen in Deutschland schützen und uns vor Antisemitismus in Deutschland schützen. Es darf nicht sein, dass heute jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger wieder Angst haben müssen, weil sie Juden sind. Das ist unsere Verantwortung. Globalpolitische Vorschläge kann ich nicht machen. Der Terror der Hamas ist unerträglich, Juden töten, weil sie Juden sind. Das unfassbare Blutbad vom 7. Oktober erinnert an die grauenhafte Ermordung ganzer jüdischer Gemeinden in Osteuropa durch SS, Polizei und Wehrmacht. Letztendlich helfen nur Dialog, Kennenlernen, Empathie, Mitgefühl, Erziehung zu Toleranz, eben die Werte von Gleichheit, Brüderlichkeit d.h. Schwesterlichkeit und Freiheit.
(vg)
Info
Figurentheater zum Holocaust
Wer Die Veranstaltung wurde im Rahmen der Aktionswochen gegen Antisemitismus 2023 der Amadeu Antonio Stiftung in Berlin und dem Langenfelder Verine Kulturgut sowie dem DRKOrtsverband Langenfeld organisiert.
Was „Helgas Reise nach Riga“ wird am 10. November 2023 von 15 bis 16 Uhr im DRK Treffpunkt, in der Jahnstraße 26 in Langenfeld gezeigt. Der Eintritt ist kostenlos. Geeignet für Schüler ab 14 Jahren und Erwachsene. Anmeldung unter:
https://eveeno.com/helgas-reise
Spenden gehen an die Anne Frank Stiftung in Berlin.
Infos Matthias Kuchta unter: https://lille-kartofler-figurentheater.de/portfolio_page/helgas-reise-nach-riga/